Handelsvertreterrecht – EuGH erweitert Ausgleichsanspruch gemäß § 89b HGB
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in einer unlängst veröffentlichten Entscheidung vom 07.04.2016 (C-315/14) festgestellt, dass Ausgleichsansprüche eines Handelsvertreters nicht nur bei Neukunden, die vom Handelsvertreter geworben wurden, sondern auch bei mit Bestandskunden vermittelten Geschäften bestehen können.
Der Begriff ‚Neukunde‘ im Sinne von Artikel 17 Abs. 2 Buchstabe a der EU-Handelsvertreterrichtlinie sei nicht wörtlich zu nehmen sei. Vielmehr sei auch bei Bestandskunden zu prüfen, ob durch die Aktivität des Handelsvertreters eine bestehende Kundenbeziehung auf eine andere, qualitativ höhere Ebene gelangt sei und der Unternehmer davon wirtschaftlich profitiere. Mit dieser Entscheidung setzt sich der EuGH über den Wortlaut von Artikel 17 der Handelsvertreterrichtlinie hinweg, der im Kontext mit Ausgleichsansprüchen von Handelsvertretern von „neuen Kunden“ spricht
In dem zugrundeliegenden Fall aus Deutschland hatte eine Handelsvertreterin von dem Unternehmen Kundenlisten von Optikergeschäften erhalten und diesen Kunden dann Brillengestelle von Marken verkauft, die von diesen Kunden bis dahin noch nicht geordert worden waren. Dadurch war der Umsatz mit diesen Optikergeschäften erhöht worden.
Nach Ablauf des Handelsvertretervertrags hatte die Handelsvertreterin einen Ausgleichsanspruch nach § 89b HGB geltend gemacht. Sie argumentierte, dass der Unternehmer von diesen Verkäufen nachhaltig profitiert habe, da die Kundenbeziehung qualitativ – durch von ihr erreichte Mehrabnahmen neuer Produkte – wirtschaftlich verbessert wurde. Insofern seien die Bestandskunden des Unternehmens als ‚Neukunden‘ im Sinne der EU-Handelsvertreterrichtlinie anzusehen, was einen Ausgleichsanspruch begründe. Das Unternehmen hatte geltend gemacht, dass der Ausgleichsanspruch nur bei vom Handelsvertreter neugewonnenen Kunden bestehe.
Da die Gerichte aller EU-Länder ihre nationalen Rechtsvorschriften zum Handelsvertreterrecht unter Berücksichtigung der EU-Richtlinie auslegen müssen, hat das neue EuGH-Urteil EU-weit Bedeutung. In vielen Fällen – abhängig von der konkreten Fallgestaltung – wird das genannte EuGH-Urteil auch Gerichtsentscheide in den EWR-Staaten und der Schweiz zum Ausgleichsanspruch des Handelsvertreters beeinflussen.
Die gegenwärtig verbreitete Praxis, neu abzuschließenden Handelsvertreterverträgen Kundenlisten beizufügen, um nach Beendigung der Verträge den Alt- und Neukundenbestand verifizieren zu können, dürfte in Zukunft zu modifizieren sein. Angesichts der EuGH-Rechtsprechung sind diese Kundenlisten für die Berechnung des Ausgleichsanspruch nach § 89b HGB nämlich nur noch eingeschränkt von Bedeutung. Maßgeblich in diesem Kontext ist bei Bestandskunden vielmehr die Qualität der Kundenbeziehung, die durch die Betreuung von Handelsvertretern – zum Vorteil des Unternehmers – verbessert worden sein kann. Dies begründet dann möglicherweise einen Ausgleichsanspruch des Handelsvertreters nach § 89b HGB bzw. den entsprechenden Normen der anderen EU- und EWR-Staaten.